Reformation heißt – neu fragen, neu glauben
Wir leben in einer Ära, die von Fülle geprägt ist. Supermärkte sind überquellend, digitale Plattformen bieten unendliche Unterhaltung, Informationen sind jederzeit verfügbar, und der Markt verspricht für jedes Bedürfnis eine Lösung. Doch inmitten dieser scheinbaren Vollkommenheit stellt sich eine unbequeme Frage: Warum fühlen sich so viele Menschen dennoch leer, orientierungslos und innerlich erschöpft?
Der Reformationsgottesdienst am 2. November 2025 lädt uns ein, innezuhalten und neu zu fragen, was unser Leben wirklich trägt. Er erinnert uns an eine Wahrheit, die Jesus selbst in der Wüste ausgesprochen hat – in einem Moment der Versuchung und des Mangels.
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“
(Matthäus 4,4)
Dieser Satz ist kein bloßes theologisches Statement. Er ist ein Weckruf. Ein Protest gegen die Illusion, dass äußere Fülle innere Erfüllung garantiert. Brot steht hier stellvertretend für alles, was wir konsumieren: Nahrung, Besitz, Status, Anerkennung. Doch all das reicht nicht aus, um die tiefsten Fragen unseres Herzens zu beantworten: Wofür lebe ich? Was gibt mir Halt? Wo finde ich Trost, wenn alles andere versagt?

Martin Luther und die Reformatoren lebten ebenfalls in einer Zeit der Unsicherheit und des geistlichen Mangels. Sie stellten mutige Fragen: Was trägt wirklich? Was gibt dem Menschen Würde und Freiheit? Ihre Antwort war revolutionär: Nicht Institutionen, nicht Traditionen, nicht Macht – sondern das Vertrauen auf Gottes Wort. Die Bibel wurde neu entdeckt als Quelle von Wahrheit, Trost und Orientierung. Für Luther und die evangelischen Christen war sie nicht nur ein Buch, sondern „tägliche Nahrung“ – wohltuend, lebensnotwendig, süß wie die beste Speise.
Besonders eindrücklich wird diese Bedeutung in der Zeit der Gegenreformation sichtbar. Evangelische Familien mussten ihre Bibeln – ihren größten Schatz – vor der katholischen Obrigkeit und vor Soldaten verstecken. Die Bibel wurde in Stallbalken eingekerbt, in Baumstämmen verborgen, unter Kühen versteckt, im Ofen oder sogar im Brotteig eingebacken. Diese kreativen Verstecke zeigen, wie groß die Gefahr war, entdeckt zu werden – und wie tief die Liebe zum Wort Gottes reichte.
Das Bibelverbot war keine abstrakte kirchliche Maßnahme, sondern griff tief in das Leben der Menschen ein. Die Bibel wurde zum Symbol für Freiheit, Hoffnung und Widerstand gegen religiöse Unterdrückung. Ihr Besitz war ein Akt des Glaubens, ihr Lesen ein Ausdruck von Sehnsucht nach Wahrheit und Trost. Die Opferbereitschaft dieser Menschen ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die Kraft des Glaubens und die Bedeutung der Reformation.
Pfarrer Ambrosch hat im Gottesdienst Symbole verwendet, die die biblische Botschaft in unsere Lebenswelt übersetzen:



Die Handschellen stehen für die unsichtbaren Fesseln unserer Zeit: Leistungsdruck, Angst, Abhängigkeit. Der Glaube befreit von dem, was uns bindet – weil er Vertrauen schenkt, Orientierung gibt, Mut macht und inneren Frieden ermöglicht. Er ist kein Rückzug aus der Welt, sondern eine Kraft, die uns hilft, freier, wahrhaftiger und menschlicher zu leben.
Der Kompass steht für innere Orientierung in einer komplexen Welt. Er erinnert uns daran, dass wir nicht alles mitmachen müssen, sondern unseren eigenen Weg finden dürfen – geführt von dem, was uns wirklich wichtig ist. Ob durch persönliche Werte, Lebenserfahrung oder innere Stimme: Wer seinem Kompass folgt, lebt bewusster, klarer und freier.
Das Brot soll uns daran erinnern, dass materielle Nahrung nicht genügt. Wir brauchen geistliche Nahrung – Sinn, Hoffnung, Liebe. Dinge, die nicht käuflich sind, aber das Leben erst lebenswert machen. Es ist eine Einladung, nicht nur satt zu werden, sondern erfüllt zu leben.

Das Kreuz steht nicht für Schuld, sondern für Vergebung und einen neuen Anfang. Es erinnert daran, dass jeder Mensch Fehler machen darf und dennoch wertvoll bleibt. Es ist ein Symbol dafür, dass wir nicht über Leistung, Besitz oder gesellschaftliche Erwartungen definiert werden – sondern über die Möglichkeit, neu zu beginnen, angenommen zu sein und mit Würde weiterzugehen.
Licht – Es symbolisiert Hoffnung in der Dunkelheit. Orientierung in der Unsicherheit. Wärme in der Einsamkeit. Es ist ein Symbol für alles, was uns aufrichtet, verbindet und durch schwierige Zeiten trägt – sei es durch Mitgefühl, Klarheit oder das stille Wissen, dass es weitergeht.

Diese Zeichen machen deutlich: Der christliche Glaube ist keine abstrakte Theorie, sondern eine lebendige Kraft, die heilt, befreit und verwandelt.
Die Botschaft der Reformation ist heute aktueller denn je. Sie fordert uns heraus, nicht nur nach mehr zu streben – mehr Konsum, mehr Erfolg, mehr Selbstoptimierung – sondern nach Tiefe: nach Sinn, nach echter Gemeinschaft, nach einer Verbindung zu Gott.
Der Reformationsgottesdienst ist eine Einladung, das Leben nicht nur mit vollen Händen zu leben, sondern mit offenem Herzen. Er ruft uns dazu auf, das Wesentliche wiederzuentdecken – das, was bleibt, wenn alles andere wankt.
Vielleicht ist jetzt die Zeit…
…die Zeit, sich zu fragen: Was nährt meine Seele? Was gibt mir Hoffnung? Was trägt mich durch Krisen?
…die Zeit, sich von alten Fesseln zu lösen und neue Wege zu gehen.
…die Zeit, Gottes Wort wieder als Kompass zu entdecken – nicht als Dogma, sondern als lebendige Orientierung.
…die Zeit, das Kreuz nicht als Symbol der Schuld, sondern als Zeichen der Befreiung zu sehen.
…die Zeit, Licht zu empfangen – und selbst Licht zu sein für andere.
…die Zeit, die Bibel nicht als Buch im Regal zu sehen, sondern als Schatz, der unser Leben verändert.
Denn: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er lebt nicht nur von dem, was ihn satt macht – sondern von dem, was ihn berührt. Er braucht nicht nur Nahrung für den Körper, sondern auch für Herz und Verstand: Vertrauen, Hoffnung, Mitgefühl und Worte, die Mut machen.

Ein feste Burg ist unser Gott – das berühmteste Lied Martin Luthers ist das „Reformationslied“ schlechthin. Es steht für Vertrauen und Zuversicht auch gegen Widerstände und Unsicherheiten. In einer Wohlstandsgesellschaft, die oft auf materielle Sicherheiten baut, erinnert dieses Lied daran, dass der wahre Halt im Glauben liegt.
Evangelisches Gesangsbuch EG Nr. 362
Ein feste Burg ist unser Gott, Ein gute Wehr und Waffen; Er hilft uns frei aus aller Not, Die uns jetzt hat betroffen. Der alt‘ böse Feind, Mit Ernst er’s jetzt meint, Groß Macht und viel List Sein grausam Rüstung ist, Auf Erd ist nicht seins Gleichen.
Und wenn die Welt voll Teufel wär Und wollt‘ uns gar verschlingen, So fürchten wir uns nicht so sehr, Es soll uns doch gelingen. Der Fürst dieser Welt, Wie saur er sich stellt, Tut er uns doch nicht, Das macht, er ist gericht‘, Ein Wörtlein kann ihn fällen.
Der Text beschreibt ein tiefes Vertrauen in eine Kraft, die Halt gibt – selbst in Zeiten großer Bedrohung. Die „feste Burg“ steht sinnbildlich für Schutz, Sicherheit und innere Stärke. In der damaligen Zeit war das Bild einer Burg ein Symbol für Unerschütterlichkeit und Zuflucht. Heute könnte man sagen: Es gibt etwas, das mich trägt, auch wenn alles andere wankt. Der Text ist eine Ermutigung, sich nicht von Angst oder negativen Kräften lähmen zu lassen. Er erinnert daran, dass innere Stärke, klare Worte und ein fester Standpunkt mehr bewirken können als man denkt. Auch wenn die Welt chaotisch wirkt – wir haben die Fähigkeit, uns zu behaupten, uns zu schützen und für das Gute einzustehen.


