Ein Ort, der Identität bewahrt | ein Haus, das Mut atmet
Identität ist mehr als ein Name, mehr als Herkunft und Geschichte. Sie ist das, was uns im Innersten trägt, was uns Hoffnung schenkt und unserem Leben Richtung weist. Für uns als evangelische Christinnen und Christen ist der Glaube nicht nur eine Überzeugung – er ist auch Herzschlag und Atem unserer Identität. Er verbindet uns mit unseren Wurzeln, mit unseren Vorfahren und mit einer weltumspannenden Gemeinschaft, die aus vielen Stimmen besteht und doch durch denselben Glauben vereint ist.
Jesus sagt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ (Johannes 15,5). Dieses Bild ist wie ein Licht, das uns den Weg weist: Wir leben aus einer gemeinsamen Wurzel. Ohne sie verlieren wir die Kraft. Mit ihr aber tragen wir Frucht – für uns selbst, für andere und für die Welt.
Doch was geschieht, wenn wir diese Wurzeln nicht pflegen, wenn wir unsere Traditionen und unseren Glauben nicht mehr wertschätzen? Die Verluste entstehen schleichend, zunächst kaum spürbar, scheinbar ohne unmittelbare Auswirkungen – und doch beginnen sie, unser Fundament zu untergraben. Irgendwann verlieren wir den Boden unter den Füßen. Orientierungslosigkeit, Wurzellosigkeit und Vereinsamung greifen um sich. Was bleibt, ist ein Einheitsbrei ohne Tiefe und Herkunft, der Unzufriedenheit nährt und Ichbezogenheit fördert. Eine Identität, die nicht gelebt wird, verdorrt – so wie ein Weinstock, der lange Zeit kein Licht und kein Wasser mehr bekommt.

Unsere Geschichte zeigt, wie stark Identität sein kann, wenn sie im Glauben wurzelt. Besonders eindrucksvoll ist das Zeugnis unserer evangelischen Vorfahren in den Ortschaften rund um Watschig. In einer armen und abgelegenen Gegend, unter Repressalien und äußerem Druck, hielten sie unbeirrt an ihrem Glauben fest. Sie bauten das Toleranzbethaus 1782 in Watschig – ein Ort des Lichts und der Hoffnung, errichtet mit Zeit, mit selbstlosem Einsatz ihrer bescheidenen Mittel, mit Kraft, Mut und unerschütterlicher Überzeugung.
Im selben Jahr machten sich zwei unerschrockene Männer auf eine Reise, die jedes Maß sprengte: Zu Fuß durch das abgelegene Kärnten, entlang des Murtals in der Obersteiermark, über die beschwerliche Semmering, damals maximal eine Kutschenstraße und ohne Tunnelkette – weiter über Wien und Preßburg bis ins ferne Modra, tief in der k.k. Monarchie, im heutigen Gebiet der Slowakei.
Kein ausgebautes öffentliches Straßennetz, ohne ein Wort der Landessprache, ohne jede Garantie, jemals heimzukehren. Jeder Schritt war ein Manifest ihres unerschütterlichen Glaubens, jeder Atemzug ein Triumph der Entschlossenheit. Zwei Wochen quälenden Weges – und am Ziel ein Pfarrer, dessen Rückkehr nach Watschig das geistliche Leben entfachte. Diese Pilgerfahrt war mehr als ein Wegstreifen durch die Landschaft: Sie ist ein Teil des Urgesteins unserer evangelischen Identität, getragen von der Kraft, unbeirrt dem Weinstock der Reformation verbunden zu bleiben.

Wie groß muss die Kraft der Identität gewesen sein, die sie getragen hat! Wie stark der Wille, sich zum evangelischen Glauben zu bekennen! Ihr Vermächtnis ist bis heute lebendig: Der Glaube als Quelle unserer Identität, als Licht in dunklen Zeiten, als Atem, der uns Kraft schenkt.
Wer heute das Toleranzbethaus betritt, spürt diesen Geist. Es ist ein Ort der Stille – hier kann man den Lärm der Welt hinter sich lassen, tief durchatmen und zur Ruhe kommen. Ein Ort, an dem die Zeit langsamer wird und das Licht durch die Fenster fällt wie eine Verheißung. Ein Besuch dort ist mehr als ein Spaziergang in die Vergangenheit: Es ist ein Atemholen für die Seele, eine Einladung, den Glauben neu aufzunehmen – im Geist und im Gefühl. Für uns ist dieses Bethaus nicht nur Geschichte, sondern auch ein wenig Heimat.
Gerade in einer Welt, die vom Streben nach Wohlstand und Überfluss bestimmt ist und in der Säkularisierung fast schon wie eine Mode erscheint, schenkt uns die bewusste Identifikation mit unserem Glauben und unseren Wurzeln einen heilsamen Gegenpol – und ist keinesfalls ein Widerspruch. Denn wer sich verwurzelt weiß, kann offen sein für Vielfalt und Moderne. Wer Heimat im Glauben hat, kann das Fremde in sich aufnehmen, ohne sich selbst dabei zu verlieren. Der christliche und evangelische Glaube ist daher weder ein Gegensatz zur Globalisierung, noch etwas ausschließlich für alte Menschen, unmodern oder überholt, sondern Fundament, auf dem echte Vielfalt wächst.
Auch heute zeigt sich unsere Identität dort, wo Glaube und Gemeinschaft lebendig sind. Im Toleranzbethaus in Watschig, wo Geschichte und Gegenwart sich im Licht der Hoffnung berühren, gleichermaßen wie z.B. in der Arbeit der Freiwilligen Feuerwehr, die seit Generationen Verantwortung übernimmt und Nächstenliebe lebt, oder auch in der Gailtaler Mundart, die in Gedichten von unseren lokalen Dichtern Arnold Ronacher aus Hermagor oder Herbert Preßlauer aus Postran Erzählungen von Arbeit, Liebe, Natur und Glauben unsere Seele zum Klingen bringen können.

Diese Geschichten sind mehr als Vergangenheit – sie sind ein Auftrag. Wenn wir unsere Traditionen neu erzählen, Orte der Erinnerung – wie das Gailtal Museum oder die liebevoll übertragene, sorgsam und aufwendig erhaltene Watschiger Kesn – pflegen und generationenübergreifende Brücken schlagen, tragen wir unsere Identität weiter.
Auch unser Glaube kann dabei nicht nur Wegweiser – sondern auch Teil unserer Heimat sein. Er schenkt uns Licht, er stiftet Gemeinschaft, und er gibt uns den Atem, mutig in die Zukunft zu gehen.
Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass unsere Wurzeln nicht nur erhalten bleiben, sondern weiterwachsen. Denn wer weiß, woher er kommt, weiß auch, wohin er gehen kann.
Unsere Identität lebt davon, dass wir sie pflegen, dass wir sie teilen und dass wir sie mutig bekennen. So wie unsere Vorfahren in Watschig und Umgebung standhaft waren, so dürfen auch wir heute den Glauben als Teil unseres Lebens bezeugen – dankbar für das, was war, und voller Zuversicht für das, was kommt.
In einer Welt, die oft nach dem Immer-mehr strebt, ist es ein stilles, aber kraftvolles Zeichen, sich zu seinen Wurzeln zu bekennen. Unser evangelischer Glaube ist kein Widerspruch zur Moderne – er ist ein Beitrag zur Vielfalt. Er schenkt Tiefe inmitten von Tempo, Sinn inmitten von Überfluss und Gemeinschaft inmitten von Individualismus.
Denn unser evangelischer Glaube ist nicht nur Teil unserer Geschichte – er ist Teil von uns. Und das Toleranzbethaus in Watschig lädt uns ein, dies in aller Stille zu spüren.
